Tizians "Raub der Europa", um 1560

Aufbau von Neuropa

Der populären Erzählung von einem Europa in der Krise müssen wir ein neues Narrativ entgegensetzen. Es ist an der Zeit,  „Neuropa“ aufzubauen und prototypische Räume zu entwickeln, die zu Leuchttürmen eines neuen europäischen Geistes werden können.

Das Europa vor der Krise scheint nicht mehr zu bestehen. Vielmehr hören und lesen wir von einem Europa in der Krise, bisweilen von einer multiplen Krise. Corona ist zwar vorbei, aber seine Spuren werden noch lange nicht verschwunden sein. Dazu kommt der Krieg in der Ukraine. Er ist näher, als wir uns eingestehen wollen. 

Inflation, Lieferketten, Energiepreise. 

Bruchstellen, Gräben, Ränder, Extreme, Zersplitterung. Nationalismus.

Aufrüstung ist plötzlich das Gebot der Stunde, Neutralität kein sicherer Hafen mehr. 

Ein unüberhörbares Grundrauschen kommt vom Klima. Auch hier: Krise, manche sprechen längst von Katastrophe. 

Lähmungserscheinungen. Phantomschmerzen. Torschlusspanik. Widerwillen. 

Die große Angst vor dem Wohlstandsverlust gebiert teuflische Kinder, zumal sie in einem ignoranten Egoismus und zügelloser Gier treue Verbündete gefunden hat. 

Wie stark sind unsere demokratischen Systeme? 

Wie dünn ist der Lack der Zivilisation?

Die Erzählung von einem Europa in der Krise ist populär. Die Furcht vor dem Ende der westlichen Hegemonie füllt Talkshows und Leitartikel, macht Quote, weckt Angstlust. Bis zu einem gewissen Grad scheinen wir Europäer uns in der Rolle des Patienten zu gefallen, die Zivilisationskrankheiten sind wohlbekannt. Unflexibel sind wir geworden, teuer, verwöhnt, satt und träge, selbst unsere Fähigkeit zur Selbstverteidigung steht plötzlich infrage. Innovationen geschehen anderswo. Das Wohlstandsbäuchlein tragen wir wie ein Statussymbol vor uns her, auch wenn es die Wettbewerbsfähigkeit hemmen mag. 

Weitere Einzelheiten Coalbrookdale by Night. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J. aus dem Jahr 1801. Coalbrookdale gilt als eine der Geburtsstätten der industriellen Revolution, da hier der erste mit Koks gefeuerte Hochofen betrieben wurde
Coalbrookdale in den englischen West Midlands gilt als eine der Geburtsstätten der industriellen Revolution, da hier der erste mit Koks befeuerte Hochofen betrieben wurde. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J. aus dem Jahr 1801.

Die Erzählung von einem Europa in der Krise ist hinterfragenswert. Ist es zum Nachteil Europas, wenn etwa Indiens Wirtschaft überdurchschnittlich wächst? Stimmt die Relation, wenn wir den offenbar unaufhaltsamen Aufstieg einer staatskapitalistischen Diktatur wie China mit dem scheinbar zu trägen Fortschritt in unseren demokratischen Breiten vergleichen? Wo wollen wir hin? Und wenn wir dann wissen, wohin, sind wir auch bereit, den Preis dafür zu zahlen, selbst wenn er Demokratieabbau, Menschenrechtsverletzungen und Naturzerstörung mit sich bringt?

Krisenfeste Legierung

Europas in vielerlei Hinsicht herausragende Stellung beschränkt sich nicht auf eine Zeitspanne von wenigen Jahren. Europa ist keine Eintagsfliege, sondern ein Marathonläufer. Man muss kein Eurozentriker sein, um anzuerkennen: Dieser Kontinent kann auf Jahrhunderte andauernde Erfolgsgeschichten zurückblicken. Europa, das ist eine krisenfeste Legierung aus den Errungenschaften von Geistesgrößen wie Aristoteles, Leonardo, Michelangelo, Galilei, Shakespeare, Gutenberg, Descartes, Newton, Kolumbus und Adam Smith. Von Hildegard von Bingen, Jeanne d’Arc, Maria Stuart, Florence Nightingale, Mary Shelley, Marie Curie, Bertha von Suttner, Mutter Teresa und vielen anderen. Europa, das ist unfassbarer ökonomischer Reichtum, das ist künstlerische und wissenschaftliche Höchstleistung, das ist Philosophie, das ist Entdeckergeist. Europa, das ist eine heute trotz aller Widrigkeiten funktionierende Union demokratischer Nationalstaaten, die sich in Vielfalt geeint Frieden und Wohlstand verschrieben haben. Europa, das heißt, sich bei allen Erfolgen auch der selbst hervorgebrachten Katastrophen bewusst zu sein: Kolonialismus, Weltkriege, Genozid. Europa, das muss gerade deshalb bedeuten: Resilienz durch Reflexion.

Ein neues Narrativ

Der Erzählung von einem Europa in der Krise müssen wir ein neues Narrativ entgegensetzen. Gerade die in allen Künsten so wirkmächtigen Europäer sollten sich der Kraft des Gesagten und Geschriebenen, des Komponierten, Musizierten, Gemalten, Gestalteten und Aufgeführten bewusst sein. Die viel gesungene Hymne von Niedergang und Fäulnis braucht eine neue Ode an die Freude als Widerpart. So wie die Romantik als Reaktion auf die vernunftgeprägte Philosophie der Aufklärung und die Strenge des Klassizismus entstanden ist, braucht es – frei nach Novalis – als Kontrapunkt zu den “Zahlen und Figuren” unserer Zeit neue Erzählungen, die begeistern, inspirieren und motivieren. Die Eurozone muss vom schnöden Zahlungs- zum einladenden Begegnungsraum werden: Europa ist kein Bankomat, sondern ein Legoland für große Ideen. Unser mitunter als bleiern empfundener Alltag verlangt nach heftigen Gefühlen und unstillbaren Sehnsüchten. Lasst uns endlich wieder leidenschaftlich sein! Für die Impulse brauchen wir die Kreativen und die Idealisten, in Schwung kommen müssen wir alle. Die Zyniker mögen über diese vermeintliche Naivität lachen. Dabei ahnen sogar sie: Es ist zu spät, ein Pessimist zu sein.

Chris Müller: "Die Prophezeiung der reaktionären, nationalen und depressiven Despotie verglüht in der Deutungshoheit, die nur positive Visionen zu erlangen vermögen."
Geben wir uns Raum

Vor dem Hintergrund von Klima- und Verteilungsgerechtigkeit hat auch die Debatte um Boden- und Flächennutzung neue Dynamik gewonnen. Für die grüne Wiese – Greenfield-Projekte – braucht es herausragendes Fingerspitzengefühl und vorhaltige Konzepte. Und auch der Entwicklung von Brownfields – ehemaligen Industriearealen – kommt in ganz Europa eine herausragende Bedeutung zu. Diese brachliegenden Flächen werden – eine ebenso holistische Kuratierung vorausgesetzt – zu perspektivenreichen Inkubatoren für eine scheinbar perspektivenarme europäische Gesellschaft, zu Startrampen mit expliziten Schwerpunkten in Richtung eines anderen, besseren Morgen. Sie ermöglichen Aufschwung durch Wandel und Wandel durch Kreativität! Gut organisierte und hoch entwickelte Kreativquartiere sind heute Orte des Lebens und Wohnens, der Arbeit und Produktion, Hubs der Forschung und Wissenschaft, der Kunst und Kreativwirtschaft, der Bildung und Ausbildung, von Industrie und Handwerk. Der wachsenden Verdichtung unserer Städte steht eine Dezentralisierung durch Digitalisierung gegenüber. Wenn Europa wieder vorangehen möchte, ermöglicht es Bauhäuser 4.0, die durch Konzepte wie Zwischennutzung und eine intelligente Verschränkung von Wohnen und Arbeiten prototypisch für hoffnungsvolle urbane Lebensräume stehen und damit zu Leuchttürmen eines neuen europäischen Geistes werden können. 

Schöne, neue Welt. Freude, Wagemut und Leidenschaft, Zuversicht und Zukunftslust, ganz ohne Aldous Huxleys Albtraumvision. Europa braucht einen Belmondo-Effekt, der unseren Glauben an die Gestaltbarkeit einer besseren Zukunft beflügelt. In der Union, in allen Staaten, Städten und Gemeinden. Eine Aussicht auf ein friedvolles Protopia, das sich von Utopie und Dystopie durch eine zum Handeln anleitende leidenschaftlich proaktive Orientierung unterscheidet und uns über Jahrhunderte erstrittene Errungenschaften selbstbewusst verteidigen lässt. Notfalls mit dem Schwert, geschwisterlich geeint und stets voller Zuversicht. Wir sind weitaus resilienter als alle Diktaturen dieser Welt. 

Was wäre diese Welt ohne Europa? Die Prophezeiung der reaktionären, nationalen und depressiven Despotie verglüht in der Deutungshoheit, die nur positive Visionen zu erlangen vermögen. 

Autograph von Schillers "Ode an die Freude" aus dem Jahr 1785. Im Jahr 1955 wurde Ludwig van Beethovens Vertonung als neue europäische Hymne vorgeschlagen.
Autograph von Schillers "Ode an die Freude" aus dem Jahr 1785. Ludwig van Beethovens Vertonung wurde 1955 als neue europäische Hymne vorgeschlagen.