Der göttliche Raffael Santi und seine Autopsie der Antike

Der weltberühmte Renaissance-Maler gilt mir als Säulenheiliger der Brownfield-Entwicklung, war er doch Kartograph eines Architekturatlas im alten Rom. In einem befruchtenden Austausch mit Philosoph Bernd Waß fand ich eine Einordnung.

“Il divino” – der Göttliche – so nannte man Raffael Santi zu Lebzeiten. Ich tue das heute noch. Und dabei sehe ich nicht nur die geniehaften Werke, die uns langläufig heute bekannt sind. Raffael Santi, der den meisten noch heute nur unter seinem Vornamen bekannte weltberühmte Maler und Architekt, dessen Genie die kurze Spanne der Hochrenaissance durchstrahlte, der seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in grenzenlose Begeisterung versetzte, “dessen Kunst mit absoluter Harmonie identifiziert wurde und der wie kein anderer eine Ästhetik von zeitloser Gültigkeit zu verwirklichen suchte, ist Zeit seines Lebens ein Schüler geblieben. Seine Lehrmeisterin, die er stets im Blick hatte, während er die Zukunft – insbesondere jene Roms – in ein neues Licht tauchte, war die klassische Antike – Philosophie, Rhetorik und Baukunst”, so Bernd Waß. 

Santi galt lange als größter Maler aller Zeiten, leitete den Bau des Petersdoms in Rom und erlangte nicht zuletzt mit seinen lieblichen Madonnenbildern große Berühmtheit: Raffael Santi, geboren 1483 in Urbino in den Marken, verstorben nur 37 Jahre später in Rom, war einer der bedeutendsten Künstler der italienischen Hochrenaissance – und ist heute, auf diesen Aspekt möchte ich ausführlicher eingehen, mein Säulenheiliger der Brownfield-Entwicklung.

Kein Business Angel aber ein engelhafter Entrepreneur

Brownfield-Entwicklung heißt immer, Geschichte zu entdecken, Herkunft erforschen, Zukunft herstellen – eine Überführung in neue Nutzung. Das Neue ist nicht möglich ohne das Alte. Darin stimmen Bernd Waß und ich überein. Und auch Raffael Santi und Papst Leo X. Letzterer schrieb Raffael 1518 einen Brief, in dem er ihn engagierte, um eine Kartographie vorhandener Bauwerke und Ruinen vorzunehmen. Ich bat Bernd Waß um eine philosophische Deutung dieses Briefes

„Man könnte den Brief Raffaels an den Medici-Papst Leo X. als die Wiederentdeckung der Rückbesinnung deuten. Zwar handelt es sich beim sogenannten ›Raffael-Brief‹ dem Grunde nach um eine letztlich bahnbrechende Architekturtheorie des modernen Entwerfens, die noch heute Gültigkeit besitzt, doch das war nicht das Ziel Raffaels. Das Ziel des Präfekten über die antiken Baudenkmäler Roms war die Identifikation der noch vorhanden Ruinen, ihre Autopsie und Vermessung und eine darauf beruhende architektonische Rekonstruktion – eine Art Architekturatlas antiker Baukunst, um die Zukunft noch besser als bisher im Geiste der Antike gestalten zu können.”

Aus diesem Raffaelschen Lehrstück über die Magie der Vergangenheit, eine für mich wesentliche Entdeckung der letzten Jahre, ist mir das Prinzip meiner Arbeit auf den »Brownfields« dieser Welt erwachsen, den industriellen, architektonischen und historischen Brachflächen, die im Sinne ökonomisch-ökologischer Nachhaltigkeit einer neuen Nutzung zugeführt werden sollen: Suche nach dem Vergangenen im Gegenwärtigen, so zeigt sich die Schablone des Zukünftigen. Dieser Fundamentalsatz der Zukunftsarchäologie, wie ich meine Disziplin benennen möchte, führt in seiner Anwendung, so die These, in eine Zukunft, die den Prüfsteinen des Gedeihlichen, des Guten standhält: Modernität und Menschlichkeit.

Zukunft braucht Herkunft

Mein lieber Freund Bernd Waß bestätigte mich in seiner Profession als Philosoph darin, dass Zukunft Herkunft brauche und sieht uns dabei in guter Gesellschaft: 

“Wäre unser Wille wirklich frei, das heißt absolut durch nichts bestimmt und also durch nichts geleitet, so wäre er orientierungslos und also nutzlos. Seine Kraft entfaltet er erst dort, wo er insofern unfrei ist, als er auf dem festen Fundament der Vergangenheit steht. Von hier aus nämlich zeigen sich ihm die Landmarken, die ihn auf dem richtigen Weg halten. Wenn unsere Liebe zum Neuen einem Tyrannen gleicht, der das Alte aus dem Reich des Herrlichen verstößt, so sind wir verloren: Zukunft braucht Herkunft. So hat es der deutsche Philosoph Odo Marquard formuliert, denn in der modernen Welt, so Marquard, erwartet man – mit guten oder schlechten Gefühlen – von der Zukunft zunehmend, dass sie das Neue ist. Das Neue aber – wie ist es überhaupt menschenmöglich? Nicht ohne das Alte. Zwar liegt das große Potenzial des Neuen und damit einhergehend der Modernisierung in der Emanzipation von sprachlichen, religiösen, kulturellen und familiären Herkunftstraditionen, doch radikale Herkunftsneutralität, um noch einmal mit Marquard zu sprechen, führt in ein Wollen, das nur Beschleunigung kennt, aber keine Menschlichkeit. Wir müssen daher die große Ingeborg Bachmann widerlegen und endlich zu gelehrigen Schülern der Geschichte werden. Und wir brauchen uns nicht zu schämen, denn wir sind in guter Gesellschaft.”

Vergangenheitsvergessene Raserei

Das Resümee vor dem Hintergrund einer vielmals vergangenheitsvergessenen Raserei moderner Gesellschaften, die vorwiegend den Vorausdenkenden, Vorausblickenden und Vorausgehenden applaudiert(en): Suche nach dem Vergangenen im Gegenwärtigen, so zeigt sich die Schablone des Zukünftigen. Dieser Fundamentalsatz der Zukunftsarchäologie führt in seiner Anwendung, in eine Zukunft, die den Prüfsteinen des Gedeihlichen, des Guten standhält: Modernität und Menschlichkeit.