Spinoza und Anders in der Toskana

Zum zweiten Mal hatte ich das Vergnügen, an der Sommerakademie der School of Philosophy teilzunehmen. Die Reise führte uns in die Nähe von Florenz, wo wir unter der fachkundigen Anleitung der Philosophen Bernd Waß und Heinz Palasser eine Woche lang eine Melange aus intellektueller Welterfahrung und purer Lebensfreude genießen konnten. In traumhafter Umgebung widmeten wir uns Baruch de Spinoza, einem der Begründer der modernen Religionskritik, und Günther Anders, dessen Technikkritik im Kontext unserer Zeit nichts an Aktualität eingebüßt hat. 

RÜCKSCHAU AUF DIE 10. SOMMERAKADEMIE DER SCHOOL OF PHILOSOHPHY – TOSKANA, ITALIEN, 2024

LEBEN UND WERK VON BARUCH DE SPINOZA UND GÜNTHER ANDERS

Wäre es nicht der Erhabenheit der Schöpfung angemessen, zu einem Leben zu gelangen, das der Wahrheit des Wirklichen folgt, nicht der Deutung derer, die sich als Autoritäten aufführen und die so tun, als hätten sie durchschaut, was undurchschaubar ist?

Und wäre es demnach nicht epochal, die dunkle Nacht der Unwissenheit endlich zu überwinden, Bürger dieser Welt zu sein, nicht Fremde, die andere nach dem Weg zu fragen hätten, wollten sie ihr Ziel nicht verfehlen? Beseelt von dieser Idee der Selbstbestimmung sucht Spinoza die Hintergrundvoraussetzungen aufzudecken, derer es bedarf, um sie für eine Menschheit fruchtbar zu machen, die über die längste Strecke, einer Marionette gleich, am Gängelband der All-Mächtigen hängt. Und so liefert er uns in Metaphysik und Erkenntnistheorie das philosophische Fundament der Freiheit: Ein transparenter Gott, der nichts von dem, was er tut, unterlassen kann, eine darauf aufruhende transparente Schöpfung, in der es mit rechten, nämlich natur-gesetzlich determinierten Dingen zugeht und ein erkennender Geist, in dem sich die Welt a priori – unabhängig von den Zerrbildern der Wahrnehmung – spiegelt. Doch als von Gott zum Leben bestimmte Wesen sind wir nicht nur geistige, sondern auch körperliche Wesen, die sich, in die Gesamtheit der Natur eingebettet, mit einer äußeren Welt konfrontiert sehen, die sie zu zerstören droht. Davon affiziert verheddern wir uns in einem Netz aus Affekten oder besser gesagt, aus Leidenschaften, gewoben von der Macht zum Dasein, diesem gewaltigen Streben, das eigene Sein auf eine unbestimmte Zeit hin aufrechtzuerhalten. Gleich den Gefangenen in Platons Höhle halten wir das Falsche für das Wahre und das Schlechte für das Gute, sind wir nicht Herren unserer selbst, sondern Getriebene, die keine Ruhe finden. Ein tragisches Schicksal, könnte man meinen, obgleich nicht ohne Ausweg, denn was uns bleibt, um dem Wechselspiel aus unstillbaren Begierden, törichten Freuden und zerstörerischer Trauer zu entkommen und uns aus der Knechtschaft nicht nur der Affekte zu befreien, ist der Weg der Vernunft. Sich ihrer zu bedienen, sich von ihr leiten zu lassen, das heißt vom Unwissenden zum Weisen zu werden, zu einem Menschen, der über nichts weniger als über wahre Erkenntnis verfügt. Ein solcher Mensch, der sich selbst, die äußere Welt und Gott einzusehen vermag, sub specie aeternitatis, ist in jeglicher Hinsicht frei und in höchstem Maße zufrieden, und nur er führt ein Leben, das man ein gelingendes, d. i. ein glückseliges nennen kann.

Und wir, die wir uns mit diesem epochalen philosophischen Vermächtnis der Neuzeit beschäftigt und abgemüht haben? Gäbe es noch etwas zu tun, wollten wir die Ethik Spinozas auf einen einzigen – aufklärerischen – Imperativ bringen, unsere Quintessenz auf einen letzten Satz zusammenführen, so könnten wir, wohl ohne den Tadel dieses großen Philosophen fürchten zu müssen, den römischen Dichter Quintus Horatius Flaccus auftreten und ihn lauthals rufen lassen: Sapere aude! Wage es, weise zu sein! 

Doch alle Weisheit – so wir letztlich überhaupt zur Weisheit zu gelangen vermögen – wird uns nichts helfen. Wir müssen untergehen – die Menschheit insgesamt und daher auch jeder einzelne. Jedenfalls dann, wenn wir dem Befund Günther Sterns Glauben schenken.

Der einst mit Hanna Arendt verheiratete Günther Stern, dessen Federname Günther Anders lautete und unter dem er ausschließlich publizierte, entwirft in seinem Hauptwerk ›Die Antiquiertheit des Menschen‹ ein düsteres Bild über den Zustand der Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Seine radikale Technik- und Fortschrittskritik entspringt einer existenzialistisch gefärbten Anthropologie, einer Psychologie des Menschen als eines im Verhältnis zu von Maschinen hergestellten Produkten stehenden Wesens, einer Wirtschaftsontologie sowie einer Erkenntnistheorie des Gemüts: Während die Welt in allem festgelegt ist, ist der Mensch lediglich darin festgelegt, in nichts festgelegt zu sein. Das ist einerseits das Fundament seiner Freiheit und seiner Fähigkeit, sich als Individuum zu begreifen, andererseits aber auch der Grund für sein radikales Fremdsein, sein anthropologisch unhintergehbares Nicht-in-diese-Welt-passen. Da der Mensch nun nicht in diese Welt passt, muss er sich eine Welt schaffen. Weil er aber nicht festgelegt ist, ist es auch die Welt nicht, die er sich schafft, und so muss er ständig Neues schaffen, ohne jemals ans Ziel zu kommen. Nichtsdestoweniger ist er an die Welt gebunden, und diese Bindung zeigt sich am Hunger – am Hunger nach Welt. Seine schiere Bedürftigkeit treibt ihn an, und um sie zu stillen, muss er die Welt besitzen. Ein teuflischer Kreislauf, der bereits bis zur Endzeit, mithin der dritten und zugleich letzten industriellen Revolution fortgeschritten ist:

Maschinen stellen Maschinen her, die Maschinen herstellen; solange bis eine letzte Maschine etwas herstellt, das keine Maschine ist, sondern Produkt: Brot oder Granaten. Produkte werden im Hunger nach Welt verbraucht, was den Herstellungsprozess der Maschinen von Neuem anstößt, ad infinitum. So werden die Maschinen selbst zu Subjekten
und der Imperativ der Produkte, die sie herstellen, lautet: Konsumiere mich! Jetzt wird in den Laboratorien der Werbeindustrie das Höllenfeuer des Bedarfs geschürt und der Mensch zum Konsumenten gemacht, zu einem bloßen Mitarbeiter, der Tag und Nacht konsumiert und der sich dabei letztlich selbst zerstört. Von diesem Befund aus heben Anders’ Hauptthesen an: Dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können; und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein zu sollen, nein zu müssen. Dass dies in der Tat der Fall ist, zeigt sich erstens an der prometheischen Scham und der damit einhergehenden Dehumanisierung. Der Mensch schämt sich geworden, statt gemacht zu sein, ein Gezeugter statt eines legitimen Produkts, ein Mensch statt ein den anderen Geräten ebenbürtiges, exakt funktionierendes, umbaubares, reproduzierbares Gerät. Und so trachtet er danach, seine natürlichen Unzulänglichkeiten auszumerzen, sich selbst zu überwinden, zu verdinglichen, ins Lager der Geräte zu desertieren. Zweitens zeigt es sich am Diktat der massenhaften Produktion und Reproduktion von Waren und der damit einhergehenden Verwertung von allem und jedem – einmal ist keinmal, lautet das erste Axiom der Wirtschaftsontologie: Das nur einmalige ist nicht; der Singular gehört zum Nichtsein; erst im Plural, erst als Serie ist Sein. Sein aber ist Rohstoffsein, und was als Rohstoff ausgedient hat – Menschen ebenso wie radiumverseuchter Atommüll –, wird zum Totgewicht, zur Liquidationsschlacke im gnadenlosen Herstellungsprozess der Waren. Und endlich zeigt es sich drittens daran, dass in einer hochkomplexen und hochgradig arbeitsteiligen Welt das technologisch Mögliche stets realisiert wird. Längst hat der einzelne Spezialarbeiter das Ganze aus den Augen verloren und betrachtet seinen winzigen Beitrag – von der Möglichkeit eines Gewissens ausgeschlossen – als (moralisch) sauber. Festgemacht an der Herstellung und dem Einsatz der Atombombe steht der Apokalypse, für die wir blind sind, weil die Fassungskraft unseres Gemüts begrenzt ist, nichts mehr im Weg: Die große Zahl der Beteiligten und die Kompliziertheit des Herstellungsprozesses verhindert jede Verhinderung.

Angesichts dieses niederschmetternden Dramas möchte man fliehen, um mit Günther Anders Urlaub von Moralien zu machen, auf eine Insel der Seeligen flüchten, die Misere hinter sich lassen. Nur verständlich. Doch seine Technikkritik ist keine Ethik der Technik,sondern eine Anthropologie des Untergangs und nicht das kleinste Stück Land wird übrig bleiben. Nicht zuletzt deshalb schreibt der große Humanist Anders, der in seinem Philosophieren stets den Menschen im Blick hatte, dass er hoffe, er möge sich mit allen seinen Thesen irren.

LITERATUR:

• De Spinoza, Baruch: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Meiner, Hamburg, 2010.
• Waß, Bernd: Intelligibilität und Freiheit, Über die Ethik des Baruch de Spinoza, Tredition, Ahrensburg, 2023.
• Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, C.H. Beck, München, 2024.

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