In der Via Cappello stehen Menschen Schlange, um in den Innenhof eines Gebäudes zu gelangen. Hier thront der sagenumwobene Balkon, der angeblich Shakespeare zu seinem Drama inspiriert haben soll. 1597 erschienen, hat die Liebesgeschichte von Romeo & Julia nichts an Aktualität und Beliebtheit eingebüßt, so haben sogar Claire Danes und Leonardo Di Caprio das unglückliche Paar auf der großen Kinoleinwand gemimt.

In Veronas Innenstadt drängen sich Pärchen und Familien vor Julias vermeintlichem Balkon. Sie fühlen sich in die Geschichte ein, säuseln sich Liebesbekundungen und Schwüre ins Ohr. Küssen sich, posieren für Fotos, haben Tränen in den Augen und hinterlassen noch Ewigkeitsbekundungen an der Wand.

Eine Magie geht von diesem Balkon aus, ja sogar ein Bann. Das ist die geniale Arbeit eines Meisters der Immobiliendramatisierung. Denn tatsächlich wurde der Balkon erst in den 1930er-Jahren hier angebracht, also fast 350 Jahre nach dem Erscheinen des Romans. Zudem wurde der Balkon aus Fragmenten eines Sarkophags gefertigt. Der Tod steht der Geschichte gut. Und dem Gebäude diese Geschichte. Durch diese Assemblage wurde das Gemäuer eines vormaligen Gasthauses und Stalls in den Kontext der Weltliteratur gesetzt und avancierte zur Pilgerstätte.

Chapeau, Créateur! Millionen Besucher:innen folgen deinem Ruf in die Stadt. Julias Balkon ist ein exzellentes Beispiel gelungener Immobiliendramatisierung und für das Wirken von bezauberndem Storytelling. Selbstverständlich gibt es historische Versatzstücke, die feine Spuren zwischen dem Liebesroman und dem Haus der Familie dal Capello erkennen lassen. Die große Wirkung der Dramaturgie entfaltet sich jedoch durch die Menschen, die an die Magie glauben wollen.