Mutig in die sechste Welle

Vieles deutet darauf hin, dass wir am Beginn eines neuen Kondratjew-Zyklus stehen – in dieser sechsten langen Welle einer veränderten Ökonomie sind Orte gefragt, die uns Antworten auf Fragen der Gegenwart geben.

Am Anfang eines jeden einzelnen Kondratjew-Zyklus – mehr zum sowjetischen Ökonom weiter unten – steht eine neue, umwälzende Technik, die tiefgreifende Veränderungen bewirkt. Innerhalb der danach folgenden etwa 50 Jahre gibt es “vier Jahreszeiten”: Der Frühling bringt den Aufschwung (Expansion), der Sommer führt in die Hochkonjunktur (Boom), im Herbst kommt es zu einem Abschwung (Rezession) und im Winter verebbt die Welle in einem Konjunkturtief (Depression). Während dieser Zeit entsteht aber bereits die nächste Breakthrough-Innovation, die dann zu einem neuen Frühling führt.

Von Pandemie bis KI

Pandemie, Kriege, Inflationskrise, Rezession – die Anzeichen, dass die Weltwirtschaft einmal mehr einen Boden erreicht hat oder schon bald erreichen wird, mehren sich. Folgt man Nikolai Kondratjews Theorie der langen Wellen, müsste es nun wieder nach oben gehen. Als Technologien, die einen möglichen sechsten solchen Zyklus dominieren, wurden unter anderem bereits Bio- und Nanotechnologie, Gentechnik, Kernfusion, regenerative und ressourceneffiziente Energien, das Internet der Dinge, aber auch Gesundheitskompetenz im Allgemeinen ins Spiel gebracht. Und dann wären da noch die Dauerbrenner Robotik und Künstliche Intelligenz, letztere gerne mit dem Zusatz “generativ”. Also eine künstliche Intelligenz, die imstande ist, etwas hervorzubringen.

Egal, was am Ende einen neuen konjunkturellen Frühling einläuten wird oder bereits eingeläutet hat, Reibungen und Reibungsverluste sind vorprogrammiert. Die politischen Systeme sind fragiler geworden, die Aushöhlung unserer Demokratien beschäftigt die Vereinigten Staaten genauso wie Europa, alte Ordnungen werden hinterfragt, Veränderungen und Umbrüche scheinen unausweichlich, verunsichern weite Teile der Bevölkerung und befeuern die Erfolge von Populisten und Extremisten.

Es braucht Erklärer:innen, die Ängste nehmen und uns mutig machen. Nicht für die Zukunft, die Gegenwart ist erst einmal herausfordernd genug. Diese Erklärer:innen könnten die Massenmedien sein, doch ihnen kommt zunehmend die Masse an Rezipienten abhanden und ihr Glaubwürdigkeitsverlust in immer fragmentierteren Teilöffentlichkeiten ist zu groß. Das hat multiple Ursachen und ist zum Teil selbst verschuldet. (A)soziale Medien stehen im Eigentum zweifelhafter Tech-Oligarchen, die mit turbokapitalistischen Algorithmen der Desinformation Tür und Tor öffnen und unsere Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer werden lassen. Aufklärung ist definitiv nicht ihre Mission.

Kommunale Intelligenz

Schon eher sollten wir uns also auf Orte besinnen, an denen wir zusammenkommen, an denen wir Gehör finden und uns austauschen können. Orte, die nicht virtuell, sondern real sind. Orte, die Veränderung veranschaulichen, neue Formen des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens greifbar machen. Orte, die Spitzenforschung, Life Sciences und Supercomputer genauso beheimaten wie Schulen oder Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Orte der guten Hoffnung. Jedes Land braucht solche Orte, jede Stadt, vielleicht auch jede Gemeinde. Gefragt ist eine Kommunale Intelligenz, die solche Orte aufbaut und pflegt.

Von Linz, wo mit der Tabakfabrik ein prototypischer Ort für die kreative Klasse, ein kollaborativer Konzern der Creative Industries, geschaffen wurde, richten wir den Blick nach Osten in die Bundeshauptstadt.

Wiener Wille

Wie viele andere Metropolen steht die Stadt vor Herausforderungen, die sich durch alle Bereiche unseres Lebens ziehen. Will Wien zum Beispiel seine mehr als 100 Jahre währende Vorreiterrolle im sozialen Wohnbau auf ein neues Level heben, wird es Orte brauchen, an denen so etwas wie der Gemeindebau 2.0 erprobt werden kann – mit allen Aspekten des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft, von Alt und Jung. Ähnliches gilt für die Ermöglichung eines würdevollen Lebensabends für die stetig wachsende Gruppe älterer Menschen. Hierfür sind nicht nur beste Gesundheitsversorgung und soziale Teilhabe notwendig, auch die Frage nach den dafür benötigten Arbeitskräften und deren Bedürfnissen sollte mitbedacht werden.

Mit hinein in diese sozialen Aufgabenstellungen spielen Technologie und Wissenschaft: Wie können medizinische Fortschritte etwa in der Krebsforschung oder im Bereich der Autoimmunerkrankungen ein möglichst gesundes Altern erleichtern? Welche Aufgaben könnten Pflegeroboter übernehmen? Aber auch: Wie reagieren wir auf die Wissenschaftsskepsis weiter Bevölkerungsteile, wie begegnen wir Berührungsängsten mit Technologie im Allgemeinen? Wie machen wir unsere Kinder und Kindeskinder wieder zu Optimisten?

Innovationsökologie

Ein prototypischer Ort für die Antworten auf die Fragen der Gegenwart kann keine Monokultur sein. Er hat für Wissenschaft und Forschung genauso Platz wie für Kunst und Kultur, er beheimatet Bildung und Ausbildung, er hat ein Augenmerk auf soziale Fragen, er bietet Raum für Arbeit, Produktion – und Kontemplation. Er schafft eine Ökologie, die Innovationen in vielen Bereichen ermöglicht, er ist Labor genauso wie Bühne, er ist Werkbank und Hörsaal gleichermaßen. Erst durch seine ausgewogene Pluralität, die eine visionäre Entwicklung und Kuratierung voraussetzt, wird er zu einem Ökosystem, das neues Wissen und neue Kompetenzen schafft.

Dieses Ökosystem wird im Kleinen genau das erleben, was Kondratjews “vier Jahreszeiten” in der Weltkonjunktur sind: Expansion, Boom, Rezession und Depression mit einem danach wieder folgenden Aufschwung. Diese Innovationszyklen wiederholen sich und werden von unterschiedlichen Akteur:innen getragen, die zu verschiedenen Zeitpunkten entscheidende Rollen einnehmen. Die Auswahl der geeigneten Pionier:innen ist eine entscheidende Aufgabe in der Entwicklung solch prototypischer Orte.

Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew
Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew (1892-1938)

Nikolai Kondratjew wurde nur 46 Jahre alt. Seine letzten acht Jahre verbrachte er in Haft, ehe er von Stalins Handlangern im Zuge der “Großen Säuberung” am 17. September 1938 zum Tode verurteilt und noch am selben Tag erschossen wurde.

Was hatte der sowjetische Ökonom verbrochen?

Kondratjews Theorie, wonach sich der Kapitalismus gemäß seinem zyklischen Modell der langen Wellen nach Rezession und Depression immer wieder regenerieren würde, stand in deutlichem Widerspruch zur herrschenden Doktrin der Kommunisten. Sie prophezeiten den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems als Grundlage für ihre Weltrevolution. Der dem marktwirtschaftlichen Denken zumindest nicht abgeneigte Kondratjew, vor der Oktoberrevolution sogar Vize-Ernährungsminister und lange Jahre Direktor des von ihm gegründeten Moskauer Konjunktur-Instituts, fiel zunehmend in Ungnade, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und sollte bis zu seiner Hinrichtung nicht mehr freikommen.

Erst 1987 wurde Kondratjew von der Sowjetunion rehabilitiert. Die von ihm erstmals 1926 beschriebenen langen Wellen der Konjunktur sind noch immer populär.

Aus heutiger Sicht lassen sich mit Kondratiew bisher fünf abgeschlossene Wellenbewegungen der Weltkonjunktur beschreiben: Den Beginn der ersten Welle – sie dauerte etwa von 1800 bis 1850 – bedingte die Erfindung der Dampfmaschine, die zur ersten industriellen Revolution führte – man denke an die Textilproduktion, aber auch an die Mechanisierung des Bergbaus. In der zweiten Welle (1850-1910) löst die Kohle das Wasser als Energieträger ab, die Erzeugung von Stahl im großen Stil beginnt. Die Eisenbahn revolutioniert den Verkehr, die Telegraphie die Kommunikation, Zement erleichtert das Bauen. Im dritten Zyklus kommt es zwischen 1910 und 1950 zu einer großflächigen Elektrifizierung, die Sparten Chemie, Kunststoff und der Verbrennungsmotor im Fahrzeugbau bringen einen Aufschwung, Erdöl ist der wichtigste Energieträger. Das bleibt auch in der vierten und fünften Welle so: Zwischen 1950 und 1990 dominieren Petrochemie,  Kernkraft und Raumfahrt die Wirtschaft, in der fünften Welle (1990 bis etwa heute) stehen Informationstechnologie, Telekommunikation, Soft- und Hardware sowie das Internet im Zentrum einer globalisierten Weltwirtschaft. Bemerkenswert ist dabei, dass es zum Ende einer jeden Welle zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam: vom US-Bürgerkrieg über die Weltkriege des 20. Jahrhunderts bis hin zu den Kriegen in Kuwait, im Irak, in Afghanistan und zum Ende des laufenden Zyklus aktuell in der Ukraine.