Orte neuer Ordnung: Haithabu oder die erste Metropole des Nordens

Die Wikingerstadt Haithabu war über Jahrhunderte Handelszentrum und Schmelztiegel der Kulturen, ehe sie 1066 zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. 

“Die Frau lässt sich eigenständig scheiden, wann sie will” und nie habe er etwas Hässlicheres gehört, als den Gesang der Männer. Dies berichtet Ibrahim ibn Yaqub, Gesandter des Kalifen von Córdoba, im Jahr 965/966 aus Haithabu, jener “Stadt am äußersten Rand des Weltmeeres”.

Die Handelsmetropole dänischer Wikinger war jahrhundertelang Hauptumschlagplatz für den Fernhandel zwischen Skandinavien, Westeuropa, dem Nordseeraum und dem Baltikum. 1066 wurde die mittelalterliche Stadt von Westslawen verwüstet und nicht wieder aufgebaut – ihr Untergang markiert auch das Ende der Wikingerzeit. Schon 1050 hatte Haithabu, gelegen im Süden der Kimbrischen Halbinsel am Ende der Schlei, die als Meeresarm der Ostsee weit ins Landesinnere reicht, einen schweren Schlag erlitten: Den Truppen König Haralds von Norwegen war es gelungen, die Stadt in Schutt und Asche zu legen, obwohl ein neun Meter hoher Wall mit Palisade seine mehr als 1000 Bewohner hätte schützen sollen.

Heute ist der verlassene Ort in Schleswig-Holstein eine bedeutende archäologische Stätte und UNESCO-Weltkulturerbe. Dass Ibrahim ibn Yaqub den weiten Weg von Spanien an die Ostsee auf sich nahm, war kein Zufall. Der jüdische Gelehrte berichtete dem Kalifen auch aus Mainz, Speyer und Worms, aus Prag und aus Krakau. Seine Reiseberichte gelten zu den wichtigsten erzählenden Quellen dieser Zeit.

Haithabu, die “erste Metropole des Nordens”, kann als historischer “Ort neuer Ordnung” verstanden werden. Diese “Orte neuer Ordnung” sind gestern wie heute Zentren und Räume, in denen signifikante Veränderungen, Entwicklungen oder Paradigmenwechsel stattfinden. Sie zeichnen sich durch eine Kombination aus kreativer Energie, technologischer Fortschrittlichkeit, intellektuellem Austausch und oft auch durch eine spezifische sozioökonomische oder politische Konstellation aus.

In bester Lage

“Die lange Wirtschaftskrise der Spätantike schwächte sich im siebten und achten Jahrhundert endlich ab. Aufschwung in Sicht! Aber Europa hatte sich verändert. Nicht mehr das Mittelmeer stand im Fokus, Geld machte man jetzt im Nordosten”, schreibt die Historikerin Anne Mann. Über die Nordsee und die Mündungsgebiete von Rhein, Maas und Schelde handelte man damals mit England, über die Ostsee liefen die Geschäfte mit Skandinavien. Über russische Wasserläufe wiederum gelangten die Händler bis nach Konstantinopel, ins heutige Istanbul. Besonders geschäftstüchtig waren die Friesen, die wohl im achten Jahrhundert auch Haithabu gründeten, zunächst als temporären Handelsstützpunkt für den Sommer. “Die Lage war gut gewählt, die Bucht am Ende der Schlei geschützt, das Wasser flach, so dass man die Schiffe auf den Strand auflaufen lassen konnte zum Be- und Entladen. Aber das Beste war: Auf dem Landweg war (auch, Anm.) die Nordsee gerade mal 18 Kilometer entfernt, eine Strecke, die mit Karren gut zu bewältigen war. So konnte man sich den gefährlichen Seeweg um das heutige Dänemark herum sparen und erreichte über Treene und Eider die Nordsee.”

Kontrolliert vom Dänenkönig Godofred erlebt Haithabu, die Siedlung auf der Heide, Anfang des neunten Jahrhunderts eine erste Blüte: Der Wikinger zerstört den konkurrierenden  Handelsplatz Reric in der Wismarer Bucht, entführt wohlhabende Kaufleute und siedelt sie in Haithabu an. Nicht zuletzt weil alle gute Geschäfte machen wollen, prosperiert die Stadt. Das Danewerk, ein etwa 30 Kilometer langes, zehn Meter breites und fünf Meter hohes Wallsystem, schützt die kreuzenden Handelswege, die von der Iberischen Halbinsel bis ins Zwischenstromland nach Mesopotamien und vom Weißen Meer im Norden Russlands bis in die Ägäis reichen. Haithabus Lage in Grenznähe zum Frankenreich Karl des Großen führt 873 zu einem Handelsabkommen, das den blühenden grenzüberschreitenden Warenaustausch regelt.

Aus dem kleinen Handelsplatz wird eine Stadt, Haithabu zählt bis zu 1000 Einwohner, fast ausschließlich Kaufleute und Handwerker. Sie kommen aus Sachsen, Friesland und dem Frankenreich, sind Slawen und Schweden, oder, wie Ibrahim ibn Yaqub, Gesandte aus dem fernen islamischen Spanien. Die Stadtväter verstehen, dass ein funktionierender Hafen die Grundlage für ihren Wohlstand ist: Sie bauen die Hafenanlagen aufwändig aus, investieren in Landebrücken und lassen einen riesigen Warenumschlagplatz entstehen.

Amazon-Zentrallager des Frühmittelalters

Egal ob Bernstein und Pelze, Honig und Wachs, Keramik und Waffen oder Quecksilber und Zinn: Haithabu war so etwas wie das Amazon-Zentrallager des zu Ende gehenden Frühmittelalters. Sogar von den mehr als 2000 Kilometer entfernten Lofoten-Inseln wird gefriergetrockneter Dorsch angeliefert und findet in der Hafenstadt an der Schlei seine Abnehmer. Am meisten Profit ließ sich allerdings wie so oft in der Geschichte mit der “Ware Mensch” machen. Anne Mann berichtet: “Feilgeboten wurden Kriegsgefangene und Menschen, die Räubern oder Piraten in die Hände gefallen waren und das Lösegeld nicht aufbringen konnten. Wichtigster Abnehmer war das islamische Spanien, doch Sklaverei war in ganz Europa verbreitet. Die meisten Sklaven kamen aus den riesigen Räumen Osteuropas. Die slawischen Gebiete boten ein fast unerschöpfliches Reservoir. Außerdem lieferte der Osten vor allem heidnische Sklaven, ein großer Vorteil, denn christliche Sklaven durften nach Kirchenrecht nicht in die Hand von Heiden geraten, also nicht jüdischen Händlern übergeben und erst recht nicht in islamische Gebiete verkauft werden. Prinzipiell hatte die Kirche nichts gegen den Sklavenhandel. Sie war nur in zwei Punkten strikt: keine Christen in heidnische Hand und kein Sex mit Sklaven. Nicht, dass man sich immer daran gehalten hätte.”

Selbst die Religion war in Haithabu ein Standortfaktor: König Horik I. bekannte sich zur Religionsfreiheit und gestattete den Bau einer christlichen Kirche, um christliche Händler anzuziehen. “Das Leben in Haithabu war ein Leben an der Grenze, auf der einen Seite die skandinavisch-heidnische Welt der Wikinger, auf der anderen die christliche der Franken. Man hat in Haithabu Gräber von Skandinaviern (vor allem Dänen), Franken, Sachsen, Nordfriesen und Slawen gefunden. Der Übergang von der Brand- zur Körperbestattung erfolgte deutlich früher als im Umland, auch finden sich deutlich weniger Beigaben.”

Müllkippe

Doch da war Haithabus Ende nicht mehr fern: Der eigentliche Untergang der Stadt war wohl weder der Angriff der norwegischen Wikinger 1050, noch die Plünderung und Brandschatzung durch die Westslwaen im Jahr 1066 – es war der Umstand, dass niemand den Ort wieder aufbauen wollte. Denn es sollte sich rächen, dass die Einwohner über Jahrhunderte den Hafen als Müllkippe für Abfall und Ballaststeine der Schiffe benutzt hatten und die Handelsschiffe neuerer Generation immer mehr Tiefgang hatten. Stege und Hafenanlagen einmal mehr zu erweitern, zu verlegen und zu erneuern, wie man es schon so viele Male hatte machen müssen, war den Geschäftsleuten diesmal offenbar schlichtweg zu teuer. Sie gaben die Siedlung auf – und zogen den Schlussstrich unter die Erfolgsgeschichte eines Ortes neuer Ordnung.

Haithabu war retrospektiv nicht nur ein Ort ausgesprochener wirtschaftlicher Dynamik mit günstigen politischen und regulatorischen Bedingungen sowie einer einzigartig günstigen topographischen Lage. Es war auch ein kultureller und über tausende Kilometer hinweg bestens vernetzter Schmelztiegel, der Händler und Handwerker aus ganz Europa angezogen hat. Durch den Import exklusiver Handelsgüter entwickelten sich hoch spezialisierte Handwerke – gleichsam Start-ups früherer Tage: Als historisch gesichert gelten aufwändige Goldschmiede- und Pressblecharbeiten, die Kunst des Holzdrechselns oder auch die Herstellung von Waffen. Haithabus kulturelle Vielfalt spiegelt sich nicht zuletzt in kostbaren Alltagsgegenständen, Schmuckstücken und der Grabkultur wider.

Letztgenannte belegt eindrucksvoll eines der prächtigsten Gräber der Wikingerzeit: Nahe Haithabu erhebt sich ein Hügel, in dessen Inneren ein 18 Meter langes, seetüchtiges Kriegsschiff vergraben liegt. Unter dem Kiel fanden drei Männer in einer hölzernen Kammer ihre letzte Ruhestätte, ausgerüstet mit fränkischen Schwertern, Schilden, Pfeilen, Zaumzeug – und den dazugehörigen Pferden.

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Haithabu, wie es sich der KI-Bildgenerator vorstellt.